Miranda July: Zwischen Porno-Pop und Menopause
Die Wechseljahre haben die coole Seite der Kultur erreicht: Feuilleton-Liebling und Künstlerin Miranda July sorgt mit "Auf allen vieren" international für Aufsehen.
Als Miranda July, heute 50, sich ihrer Lebensmitte näherte, spürte sie, dass sie sich einer Grenze näherte, als stünde sie am Abgrund eines dunklen, noch unbekannten Kellers. Also machte sie sich daran, das Licht anzuknipsen und ordentlich aufzuräumen. Die Autorin, Filmemacherin und Multimedia-Künstlerin sprach im Zuge ihrer Recherchen zu ihrem aktuellen Buch über ein Jahr lang mit Ärzt:innen, Freundinnen und unbekannten Frauen, mit noch mehr Ärzt:innen und noch mehr Frauen – und betrachtete schließlich ihre Zukunft mit neuen Augen.
Die Schriftstellerin in mir konnte ihr Glück nicht fassen, auf ein so wichtiges und interessantes Thema wie die Wechseljahre gestoßen zu sein. Ein Thema, das dazu noch so unberührt ist, so die Autorin über ihren zweiten Roman Auf allen vieren (Verlag Kiepenheuer & Witsch). Dieser beruht auf Julys Erkenntnissen und Wahrnehmungen, wurde von Gynäkolog:innen auf Fakten überprüft, ist aber kein Lehrbuch, keine Fachliteratur – sondern eher ein (Spoiler: brillanter) Coming out of Age-Roman für Frauen in der Lebensmitte.
Sexuelle Selbstfindung während der Wechseljahre
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Die namenlose Erzählerin von Auf allen vieren ist eine halbwegs berühmte Künstlerin, die sich ein halbwegs respektables Leben aufgebaut hat – mit einem Haus am Stadtrand, einem fürsorglichen Ehemann und einem geliebten Kind. Ihre wilden Seiten hat sie dafür ad acta gelegt. Doch als sie mitten in den Wechseljahren in eine Phase des sexuellen (Neu-)Erwachens stolpert, bricht das sorgfältig zusammengezimmerte System zusammen. Ihre Vorstellung von Begierde verändert sich, am Ende reißt sie die Mauern ihres Lebens nieder. Sie erkennt: Obwohl mit dem Alter eine gewisse Weisheit Einzug hält – die Unannehmlichkeiten und Untiefen der Selbstfindung verschwinden nie ganz aus dem Leben einer Frau.
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Der Inhalt des Road-Trip-Romans in Kürze: Die Protagonistin macht sich auf den Weg nach New York City, bleibt aber in einem Motel unweit ihrer Heimat hängen, wo sie an einer Tankstelle eine Affäre (ohne Sex, aber mit wilden erotischen Fantasien) mit einem jüngeren Mann beginnt, der weitere (wilde und tatsächliche) Abenteuer mit Frauen folgen. Warum das alles? Sie betrachtet die Wechseljahre als einen existenziellen Zustand, in dem ihre Identität noch einmal neugestaltet werden muss – auch wenn sich Teile ihres früheren Ichs gegen eine solche Neugestaltung sträuben.
Die Wechseljahre, nicht auf Hitzewallungen reduziert
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Der Roman begleitet die Heldin auf ihrer Suche, bei der sie zu verstehen versucht, was es bedeutet, Mutter und Künstlerin zu sein. Und was es bedeutet, diese Rollen zu übernehmen, während man eine gravierende körperliche Veränderung durchmacht, die immer noch als ein Tabu wahrgenommen wird.
Die spezifischen körperlichen Erfahrungen im Wechsel sind so unterschiedlich, dass ich wusste, dass es in meinem Buch weniger um Symptome gehen soll – meine Erzählerin hat z.B. nie Hitzewallungen. Sondern mehr um einen inneren Zustand und darum, wie die reale Welt uns in diesem Alter formt und von uns geformt werden könnte, erklärt July ihre Motivation in der Yale Review: Außerdem wollte ich, dass meine Erzählerin nicht so weise und stoisch ist, wie wir alle bei diesem Thema vorgeben zu sein. Der Roman sollte die oft widersprüchlichen Ansichten und Empfindungen vieler Frauen enthalten und nicht nur eine einzige, einsame Wahrheit. Die gibt?s nämlich nicht!
Motivierender Nachsatz: In vielen Ländern gibt es nun einen großen gesundheitspolitischen und gesellschaftlichen Vorstoß zum Thema Wechseljahre. Die Dinge begannen sich zu ändern, noch während ich das Buch schrieb. Während ich den Text redigierte, begannen verschiedene Prominente, Produkte für Frauen in den Wechseljahren zu verkaufen oder einfach nur frauengesundheitlich aufzuklären. Jetzt kommt fast jede Woche etwas Neues in diesem Bereich an die Öffentlichkeit, und ich hoffe, dass es Opern, Lieder, Theaterstücke und viele, viele Romane geben wird. Das alles wird es brauchen!
Warum Auf allen vieren ein Meilenstein für uns ist
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Unser Fazit: Miranda July ist eine der aufregendsten Künstlerinnen unserer Zeit. Ihre Filme, Kunstaktionen und Texte werden weltweit gefeiert, sie ist eine Trendsetterin und Ikone der intellektuellen Szene. Mit ihrem skurrilen Roman haben die Wechseljahre nun endgültig die Popkultur erreicht. Auf allen vieren liest sich ein wenig wie ein Tagebuch – mit teilweise expliziten, fast pornographisch genauen Szenen. Man möchte auf manchen Seiten peinlich berührt erröten, auf anderen hysterisch lachen oder auch intensiv trauern – um den Verlust des Östrogens, der jugendlichen Naivität und die Vorstellung einer glücklichen Ebne.
Tipp: July geht auf mit ihrem Wechseljahre-Roman im Juni 2024 auf Lesetour und beglückt auch Hamburg und Berlin!
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