Würdelos altern
Pinke Haare? Minirock? Beauty-Hacks? Junger Lover? Oder doch lieber friedlich ergrauen und die Füße stillhalten? Altert doch wie ihr wollt!
Wenig wird so intensiv diskutiert und bewertet wie die Würde einer Frau ab dem Zeitpunkt, an dem mehr als 45 Kerzen ihre Geburtstagstorte zieren. Kann sie sich nicht ihrem Alter entsprechend stylen? Benehmen? Leben? Lieben? Sogar Madonna, ihres Zeichens nimmermüde 64, steht heftig im Kreuzfeuer der Kritik. Ja, selbst eine Kunstfigur, ein eigens kreierter Avatar, eine durchdesignte, aber selbstbestimmte Kreation – so bunt, schrill, alterslos und fluid wie ein Paradiesvogel. Da hagelt es Häme und Kritik. Das Einzige, was mich bei ihr noch überraschen würde, wäre, wenn sie sich mal ihrem Alter entsprechend verhält, so kommentierte ein Bekannter ein aktuelles Bild von Madonna auf Social Media. Früher musste die Sängerin noch vor brennenden Kreuzen masturbieren, um das Blut in Wallung zu bringen. Heute reicht es, wenn sie sich weigert optisch zu altern.
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Zwar bin ich mir sicher, dass es eine Madonna nicht kratzt, wenn ihr Dasein auch nach 60 so erheblich verstört. Aber über die Formulierung ihrem Alter entsprechend musste ich nachgrübeln. Vielleicht habe ich in der Mädchenschule ja gefehlt, als das Buch mit dem gleichnamigen Titel verteilt wurde. Sonst könnte ich jetzt meinen Jahrgang nachschlagen, um mein Dasein in Würde zu gestalten. Sind Hoodies am Weg zum Supermarkt noch genehm? Oder tiefe Ausschnitte? Kann ich Partys mit 25-Jährigen feiern ohne als notgeile Alte abgestempelt zu werden? Sportarten wie Boxen praktizieren oder soll es bereits -Qigong sein? Muss das Konzert schon klassisch sein oder darf ich noch zu Techno tanzen? Und was steht mir in Zukunft noch alles bevor? Soll ich mir rechtzeitig beige Bundfaltenhosen zulegen und ein Rosenbeet anlegen, damit ich bloß keinen mit meiner geringen Selbstachtung verstöre?
20 Jahre Altersunterschied – what shalls?
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Als würdelos wird auch oft eine Ü40 Frau bezeichnet, die sich gerne mit jungen Kerlen umgibt. Und selbst ich lehnte in meinem allerersten Blog hier auf wechselweise.net diese Kombination noch ziemlich brüsk ab. Doch dieses Jahr hat mich verändert. Und es passiert nicht zum ersten Mal, dass ich mich unters Jungvolk mische. Auf einer WG-Party unlängst (Dosenbier, weiche Drogen und intensive Gespräche zur Welterrettung inklusive) waren meine Freundinnen und ich eine kleine Sensation, der mit großer Neugierde begegnet wurde. Vielleicht geben wir dem Jungvolk ja die Hoffnung, dass das Leben bunt und facettenreich bleiben darf, wenn man will – selbst, wenn ich solche Abende höchstens einmal im Monat schaffe und der Kater mittlerweile einer tödlichen Krankheit gleicht.
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Davor begab ich mich mit einer gleichaltrigen Freundin und deren Tochter samt Freund auf ein Konzert (Dancehall, nicht Beethoven) und wurde mit einem Kompliment bedacht, das auf den Punkt bringt, dass man das Rad der Zeit nicht aufhalten kann, aber dennoch ausreichend Spaß haben kann: «Wenn ich mal so alt bin wie du, möchte ich auch so cool sein.» Und heute schreibe ich diese Worte, nach dem ich mit einem hinreißenden 27-jährigen Künstler meine Lieblingsbar ausgetrunken habe. 20 Jahre Altersunterschied – what shalls? Ich mag diese neue Generation junger Männer. Sie sind echte Kerle, die über ihre Gefühle reden können. Sie leben und lieben sehr oft außerhalb von überholten Konstrukten von Geschlecht und Alter. Sie wirken freier und glücklicher. Sie geben mir Hoffnung und machen mich stolz.
Ob ich krampfhaft versuche, jugendlich zu bleiben? Nö. Wie denn? Aber warum sollte ich meinen Lebensstil, meine Art mich zu kleiden und zu schminken verändern – es passt mir einfach gut.
Das Leben beginnt jeden Tag neu
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Einmal wurde ich gefragt, ob ich versteckte Ängste habe, weil ich gerne würdelos altere und darüber oft schreibe. Na klar hab' ich Ängste, und nicht mal versteckte. Ich habe Angst davor krank zu werden, aus diesem großen, reichen Leben scheiden zu müssen. Ich habe Angst davor, dass mein Experiment schief geht und ich eines Tages aufwache und einsam bin, weil ich mich für einen Weg außerhalb der gesellschaftlichen Trampelpfade entschieden habe. Nun, alles hat seinen Preis, auch die Freiheit. Aber wenn ich mich hineinspüre, merke ich, dass ich nicht nur einzahle, sondern auch sehr viel zurückbekomme.
Wir müssen davon wegkommen, Menschen zu labeln – und Frauen müssen stärker denn je dagegen kämpfen, in Schubladen gesteckt zu werden. Nicht das Altern selbst ist das Problem, sondern der Umgang damit. Es ist ein Privileg, das nicht allen widerfährt.
Und eure Würde? Die ist selbst-, nicht fremdbestimmt. Eure Würde definiert nur ihr. Doch dazu braucht es Akzeptanz und die Bereitschaft, graue Mähnen ebenso gelten zu lassen wie gefärbte. Gemütliche Outfits ebenso wie knappe Röcke. MILFs ebenso wie Mütterlichkeit. Runzeln und Botox. Faulheit und Fitness. Alles ist möglich, alles erlaubt, solange man missgünstige Hater ignoriert. Das Alter nimmt euch vielleicht ein wenig Spannkraft in Gesicht und Dekolletee. Aber es schenkt euch, die Freiheit zu sein, wer ihr sein wollt. Und euch kennenzulernen, jeden Tag besser.
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