New Year, Old Me
Silvester als Selbstverwirklichungsturbo? Sanfter Veränderungswille tritt für Wechselweise-Kolumnistin Janina Lebiszczak an die Stelle rigoroser Neujahrsvorsätze.
Du musst dein Ändern leben. Dieser Spruch hat mir nicht nur immer schon sehr gefallen, ich habe ihn verinnerlicht – auch als gemütlichen Gegenpol zum obligatorischen Du musst dein Leben ändern.
Besonders in der Zeit zwischen den Zeiten, also zu Neujahr, lesen wir oft von guten Vorsätzen, die unsere nahe Zukunft besser und vor allem: greifbar machen sollen. Der Jahreswechsel hält uns im Kollektiv dazu an, Lebenskonzepte neu zu bewerten und nachzujustieren, indem wir bewusstere oder zumindest andere Entscheidungen treffen.
Und auch die Folgen der Pandemie verleihen dieser Notwendigkeit besonderen Nachdruck: Ein wohltuender Lifestyle – also geistige, seelische wie auch körperliche Fitness – rangiert auf der Liste der guten Vorsätze ganz weit oben.
Alles und Nichts
Dazu bekam ich jüngst eine interessante Presse-Aussendung zugemailt. Das Thema? Das Prinzip der Schadensminderung. Es geht da um Strategien, die darauf abzielen, negative gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Konsequenzen persönlicher Verhaltensweisen zu reduzieren, statt diese komplett zu eliminieren. Totale Entsagung unserer liebsten Genussmittel und tendenziell schädlichen Gewohnheiten ist nicht immer möglich und auch nicht immer sinnvoll.
Forscher:innen argumentieren heute, dass der Alles-oder-Nichts-Ansatz zur Abstinenz seine Tücken hat und nicht unbedingt umsetzbar ist. Dies beträfe etwa das Bedürfnis der Menschen nach Nähe – Stichwort Social Distancing im öffentlichen Raum. Das kann ich nachvollziehen – ich gehöre zu jenen Menschen, die sich auch in den Lockdowns getestet und geimpft gerne mit einem ausgewählten Kreis lieber Menschen treffen, am liebsten im Freien.
Ist kompletter Verzicht möglich?
Aber es betrifft auch das Reisen (kompletter Verzicht auf neues Land liegt nicht in der Natur des Menschen), den Konsum von Fleisch, Alkohol und Tabak.
In der Praxis könnte das bedeuten, zu reisen, aber den Zug als Transportmittel zu bevorzugen, vegane oder vegetarische Tage einzulegen, dem Nikotinkonsum zu frönen, aber auf dem schädlichsten Teil des Rauchens, also die Verbrennung, zu verzichten.
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Den letzten Teil dieser Aufzählung versuche ich gerade in die Tat umzusetzen, auch wenn der neue Tabakerhitzer noch unverpackt am Schreibtisch liegt. In den nächsten Tagen werde also versuchen, die Tschik zu lassen und umzusteigen. Auch weil ich in einem Testbericht darüber folgendes Zitat von Schriftsteller Wolf Wondratschek las: "Wir sind alle Abhängige, und es geht nicht darum, die Abhängigkeit zu minimieren, sondern darum, sie zu akzeptieren, zu kultivieren, zu lieben. Ich bin abhängig von Ritualen. Durch Rituale bekämpfe ich die Banalität des Lebens."
Stillstand als Fortschritt
Auch ich bin abhängig von Ritualen, selbst wenn ich alte manchmal gerne durch neue ersetze. Dieses Jahr zu Weihnachten etwa habe ich durchgesetzt, was mir guttut, nachdem ich zuvor erfahren konnte, was mir nicht guttut.
Eine neue Abfolge der gewohnten Erlebnisse brachte Ruhe in meine zum Jahresende traditionell geschundene Seele. Und auch in den Stillstand, die diese Tage (esoterisch geprägt auch Rauhnächte genannt) prägt, lasse ich mich hinein – ganz wie ein Felsenkletterer, der sich in eine Schlucht abseilt. Keine nennenswerten sozialen Aktivitäten, keine großen Sprünge. Luft, Schlaf, Essen. Feuerwerk? Brauch ich gerade nicht. Keine fette Silvesterparty, sondern ein Neujahrsbrunch mit Freund:innen steht heuer am Programm.
Ich freue mich auf diese Abwechslung: Wie wird es sein, wenn ich nicht zu Mitternacht aufgekratzt mit der Champagner-Flöte herumfuchtle – wissend, dass Silvester einfach nur ein Datum ist, das sich ändert – nicht mein Leben, nicht unser aller Leben. Dieser New Year New Me -Hype kam mir immer schon doof vor. Silvesterfeiern haben mich immer schon melancholisch gemacht statt mutig. Warum also nicht Veränderung versuchen?
Mit Babyschritten in eine neue Welt
Sich sanft aus Mustern zu befreien oder zumindest damit zu experimentieren, ist auf den ersten Blick kein gewaltiger Einschnitt. Beeindruckender klingen Vorhaben wie Nie mehr Rauchen, Jeden Tag Sport oder Weg mit den 10 Kilo zu viel in nur einem Monat. Den Gegenentwurf zu solchen Vorhaben nenne ich gerne Babyschritte. Nicht weil sie klein und damit unbedeutend sind. Für ein Kleinkind ist jeder Schritt eine Reise in eine neue Welt.
Fazit: Es macht mich glücklich und frei, mich mittlerweile gut zu kennen. Meine Muster, meine Trigger, meine Untiefen. Schadhaftes Verhalten ist mir deshalb nicht fremd und immer noch begebe ich mich in Situationen, in denen ich mich überfordert oder sogar machtlos fühle. Das geht dann so lange bis es eben nicht mehr geht. Deswegen habe ich heute keinen Neujahrsvorsatz für euch. Nur mein altes Ich. New Year – Old Me. Irgendwie gefällt mir das.
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