Gesichtsverlust: Madonnas letzte große Provokation
Wer bitte ist auf die Idee gekommen, dass Madge wie ein Ex-Model altert, das in den Hamptons Pferde züchtet und im gemütlichen Strick lange Strandspaziergänge absolviert?
Ich muss einen Gesichtsverlust beklagen. Obwohl ich seit Jahresbeginn ein für meine Verhältnisse asketisches Leben lebe, inklusive frühem Abendessen (18h) und früher Bettzeit (22h), viel Sport und wenig Party, schimmern die Ringe unter meinen Augen so tief wie nie. Der Teint ist grau und meine Backen (oben) beginnen zu hängen. Unterhalb meiner Mundwinkel legt sich das Gewebe in komische, fast mag ich sagen: exotische Falten. Auch wenn ich nie wirklich damit gerechnet habe: Aber ich werde ganz offensichtlich alt oder zumindest: älter.
Mein Gesicht, stets die verlässliche Eintrittskarte in die Welt der Schönen, Erlebnisreichen und Glücklichen, es schrumpelt, wabbert, knittert. Eine Tendenz, die auch der Selfie-Schnitt bestätigt: Selbst bei perfekten Lichtverhältnissen und perfekter Pflege fällt nur noch jedes Zehnte halbwegs erträglich aus. Was nun? Ab zum Beauty-Doc? Dazu fehlt mir das nötige Kleingeld. Doch die Face-Tune-App runterladen und wenigstens online ewige Jugend verbreiten? Nein, zu offensichtlich. Darmreinigung? Faceyoga? Frischzellenkur? Noch mehr fasten, noch mehr Sport?
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Ich werde mich wohl oder übel an den langsamen Zerfall gewöhnen müssen. Bis eines Tages die Augen einer jungen Frau aus dem Gesicht einer alten Frau strahlen werden. Augen altern nicht. Und noch immer gehört es zu großen Programmierfehlern der Natur, dass man sich mit den Jahren in seiner Haut immer wohler fühlt, aber dass die Haut da nicht mitgeht. Klingt eitel? Ist es auch.
Hauptsache natürlich – oder selbstbestimmt verformt?
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Ich bin vielleicht eitel, aber ich kein Star, ich bin allerhöchstens eine "legend in my livingroom", wie Annie Lennox es mal so schon besang. Und damit klar im Vorteil. Als ich unlängst meine Fotokiste (ja, analoge Bilder, ausgedruckt) durchwühlte und mein früheres, strahlendes ICH bewunderte, spürte ich auch eine gewisse Erleichterung. Mir sieht nur eine gewisse Zielgruppe beim Altern zu. Bei Madonna glotzt die ganze Welt.
Gerade wird die 64-Jährige durchs digitale Dorf getrieben, weil sie nicht mehr so aussieht wie früher oder zumindest nicht so, wie man die berühmte Würde des Alters allgemein definiert. Gut, ausrasierte Augenbrauen, Gretchenzöpfchen und eine ewig schlängelnde Zunge sind nicht jedermanns Sache. Aber diese Frau hat im Laufe ihrer Karriere so viele Looks geprägt, warum diesen nicht als solchen hinnehmen? Sie hat beschlossen ein exotisches Alien, die absolute Kunstfigur zu werden und das ist sicherlich kein Zufall. Eine Madonna legt sich nicht unter das Messer eines Stümpers. Selbst die Verformung ihres Gesichts ist selbstbestimmt, da wette ich drauf.
Gefangen zwischen Untertreibung und Übertreibung
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Was mich an dem ganzen Diss wurmt, ist also nicht nur die Tatsache, dass sich die Öffentlichkeit beharrlich in den Alterungsprozess von Frauen einmischt. Eh schon wissen: Die eine hat zu viele Falten, die andere zu viel Botox, die eine lässt sich gehen, die andere gilt als Kontroll- und Fitnessfreak. Zwischen Untertreibung und Übertreibung befinden sich wenig gute Sitzplätze. Aber kommen wir zum Punkt: Was mich an der Causa Madonna so aufregt, ist, dass ihr verändertes Gesicht nur deswegen im Kreuzfeuer der Kritik steht, weil man sieht, dass es gemacht ist.
Die Offensichtlichkeit ihrer Eingriffe ist ein Schlag ins Gesicht einer Gesellschaft, die ewige Zeitlosigkeit verlangt. Wenn man nicht versucht, jünger auszusehen, ist das ein Eingeständnis der Niederlage. Aber wenn man es doch tut – und es ist offensichtlich – ist das ein noch größeres Verbrechen. Wir schreiben 2023 – und die Zwickmühle presst uns immer noch die Luft aus den Lungen: Wenn wir eine echte Gleichstellung der Geschlechter erreichen wollen, sollten wir uns nicht an Schönheitsnormen halten. Aber wenn wir sie ignorieren, werden wir abgestraft, weil wir nicht attraktiv genug sind. Ällerbätsch.
Die Wiedergeburt als ewige Provokation
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Wenn es sich um Frauen "eines bestimmten Alters" handelt, wird es noch enger. Madonnas Problem ist, dass sie immer noch sichtbar ist. Sogar sehr sichtbar. "In your Face", gerade zu. Wie dieses Face aussehen kann, ist allein ihre Sache, aber wer bitte ist auf die Idee gekommen, dass Madge wie ein vornehmes Ex-Model altert, das in den Hamptons Pferde züchtet und im gemütlichen Strick täglich lange Strandspaziergänge absolviert? Die Frau ist Freak, eine Rebellin, eine Ikone, die uns sexuelle Selbstbestimmung gelehrt hat, die sich mit dem Patriachat, der katholischen Kirche und einer ganzen Armada an Konservativen und Hillbillys angelegt hat. Lang bevor Lady Gaga die Regenbogenflagge schwang. Lang bevor Diversity vom Schlagwort zum Lifestyle wurde. Lang bevor Selbstbefriedigung als Akt der Selbstliebe gefeiert wurde. Lang bevor Frauen Frauen auf der Bühne küssen durften oder auch jüngere Männer.
Madonna ist die kommerziell erfolgreichste Sängerin der Welt. Madonna hat mehrere Einträge im Guinness-Buch der Rekorde. Madonna war immer und ist immer auf Krawall gebürstet. Sie weigert sich, still zu gehen. Und auch im letzten Drittel ihres Lebens und in all ihrer makabreren Pracht schenkt sie sich und damit uns ein großes Gut: Die Freiheit.
Ja, sehr wahrscheinlich kann man nicht jünger werden. Und sehr wahrscheinlich kann eine Frau über 45 nie wieder eine probate Gefälligkeitsstufe erreichen. Aber sie kann anders werden. Und sich im Anders sein treu bleiben. Denn jetzt hat sie die besten Voraussetzungen dazu, auf den ganzen verlogenen Mist zu pfeifen – als straffe, faltige, sportliche, dicke, dünne, faule, junge, alte und ewige Erinnerung, dass das Leben endlich ist. Für uns alle. Auch für Madonna.
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