Frauen, bitte lasst das gegenseitige Bewerten sein!

Bei Gerti piepst es. Denn Gerti trägt jetzt einen Biosensor am Körper, der ihren Blutzuckerspiegel misst – 24/7. Gert ist allerdings keine Diabetikerin. Sie will nur möglichst gesund und möglichst schlank bleiben mit ihren über 50 Lenzen. Wobei: Gesund ist sie eigentlich, daran arbeitet sie konsequent, lässt regelmäßig ihren Nährstoff- und Hormonspiegel überprüfen, geht zum Sport und zur Therapie. Sie liest Fachliteratur über ewige Jugend und Zellerneuerung, studiert Blogs und Online-Beiträge. Und schlank ist sie auch, jedoch: Das viszerale Fett ist ein Hund, selbst nach der letzten Fastenkur. Oder könnte ein Hund werden, man weiß es nicht genau. Fix ist nur: Bei Gerti piepst es, denn gerade hat sie einen Apfel gegessen und warum auch immer ist das der App nicht recht. 

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Bei Monika piepst es nicht. In den Wechseljahren ist sie sehr wahrscheinlich, denn nächstens halten sie Hitzewallungen wach, tagsüber verdunkelt sich ihre Stimmung manchmal völlig grundlos. Einen Hormonspiegel hat sie noch nicht machen lassen, wo zu auch – ihren Körper kennt sie seit 49 Jahren, und das sehr gut. Monika geht nicht gerne zum Arzt, Monika setzt auf die Kraft der Natur und hilft ihrer Laune mit Mönchspfeffer und Johanniskraut auf die Sprünge. Zum Yoga schafft sie es selten und hält sich mit Gartenarbeit fit. Gerade hat sie einen Apfel gegessen, eine Vollkornpizza und ein Eis am Stiel. Ihr Körper reagiert darauf gelassen, ohne Piepsen. 

Bewertet. Beurteilt. Verurteilt. 

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Was die beiden Frauen gemeinsam haben? Sie werden bewertet. Beurteilt. Verurteilt. Mit guten Ratschlägen und ärztlichen Empfehlungen überhäuft. Online wie offline. Manchmal sanft, manchmal nachdrücklich und von oben herab. Gerti soll, bitte schön, mal lockerlassen, ihr Selbstoptimierungswahn sei unerträglich. Monika hingegen treibe Schindluder mit ihrer Gesundheit und ließe sich gehen.  

Ich beobachte: Frauen unterstützen einander zunehmend gegenseitig. Aber bei den Themen Weiblichkeit, Wechsel und Hormone ist Schluss mit lustig. Jede weiß es besser, keine interessiert sich wirklich für die Lebensgeschichte der zu Bevormundenden. Nichts gegen gute Tipps, aber warum kommen sie oftmals so belehrend und besserwisserisch daher?  

Ist Frauen das Konkurrenzdenken in die Wiege gelegt? 

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Wenn wir die Geschichte des weiblichen Konkurrenzverhaltens überwinden wollen, müssen wir sie verstehen wollen – unsere Dämonen, unsere dunklen Stellen. Ein großer Teil dieser Geschichte wurde von der Psychologin Joyce Benenson aufgedeckt, die dreißig Jahre lang den Wettbewerb zwischen den Geschlechtern erforschte und mit der Schlussfolgerung überraschte, dass die Evolution uns Frauen als das wettbewerbsfähigere der beiden Geschlechter geschaffen hat, während Männer kooperativere Gruppen bilden. Wie kommt's?  

Benson zufolge werden weibliche Neugeborene als weniger wertvoll angesehen als männliche, was bedeutet, dass Mädchen von Anfang an hart daran arbeiten müssen, am Leben zu bleiben. Weibliche Babys bewerkstelligen dies, indem sie sich bei ihrer Bezugsperson beliebt machen. sie lächeln mehr, weinen weniger und lernen rasch, die Gefühle der Erwachsenen zu deuten. Wenn ein Mädchen heranwächst und die Ressourcen, die ihre Mutter bieten kann, schwinden, verlagert sich ihr Wettbewerbsschwerpunkt auf Männer, um das eigene Überleben und das ihrer Nachkommen zu sichern. Sie wagen es nicht, körperliche Schäden zu riskieren, sonst ist alles verloren. Die Gesundheit ist für Frauen evolutionsbiologisch betrachtet also das höchste Gut – neben ihrer Attraktivität, die bekanntlich ja auch auf eine gute körperliche und mentale Verfassung schließen lässt. 

Der Druck, den (evolutionären) Wettbewerb zu überleben 

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Benensons Entdeckungen erklären einen modernen Konflikt: Erfahrungen und Empfindsamkeiten halten uns Frauen zusammen, aber unser dunkelster Teil kommt zum Vorschein, wenn die schönste, gesündeste (und damit auch oft jüngere) Frau im Raum erscheint. Dieser Wettbewerb bereitet uns keine Freude, wir stehen lediglich unter dem Druck, ihn zu überleben. Daran sollten wir uns erinnern, wenn uns das Mitgefühl für uns selbst und andere ausgeht. 

Tadaaaah: Auch im 21.Jahrhundert mit all seinen Annehmlichkeiten und Fortschritten sind wir instinktiv auf das Überleben ausgerichtet. Wenn wir also akzeptieren, dass die Evolution den knallharten Wettbewerb unter Frauen hervorgebracht hat, wie sollen wir uns dann ändern?  

Mein Vorschlag: Halten wir inne, bevor wir aus diesem Modus heraus handeln, bevor das strenge Urteil oder der „gute Ratschlag“ von oben herab aus unseren Fingern und Mündern fließt. Das Zauberwort heißt: Selbstreflektion! Achten wir auf unsere Gedanken, hinterfragen wir unser eigenes Verhalten und die mögliche Motivation dahinter (wer den ersten Stein wirft usw.). Informieren wir uns (wenn geht persönlich, und nicht über den digitalen Gerichtshof) über die Notlage anderer Frauen, bevor wir bewerten und versuchen, uns dadurch selbst besser zu fühlen. All das könnte das perfekte Gegenmittel zum evolutionären Shitstorm sein.  

Wir sind mehr als unsere Geschichte. Erheben wir uns. Und lassen Gerti und Monika bitte einfach bloß Gerti und Monika sein, solange sie sich nichts wirklich Gefährliches antun. 

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